"Es ist 1996, meine Freundin ist weg und bräunt sich in der Südsee. – Allein?", sang damals Fettes Brot. Allein war sie bestimmt nicht. Denn 1996 war das Jahr, in dem ICQ das Licht der Welt erblickte. Eine Revolution, die 1998 an AOL ging und dann 2010 nach Russland verkauft wurde. Mit der neuen Version seines Messengers möchte ICQ WhatsApp das Fürchten lehren. Wenn das mal gut geht.
Die Älteren unter Euch werden sich vielleicht erinnern: Es gab Zeiten, in denen war die ICQ-Nummer wichtiger als die eigene Telefonnummer. Wer zu Hause einen PC mit Internetanschluss hatte, konnte mit mehreren Freunden gleichzeitig chatten, ohne nachmittags stundenlang an der Strippe zu hängen und den Zorn von Mami und Papi auf sich zu ziehen. Kurz: Der Messenger mit der bunten Blume war Kult!
Sogar so sehr, dass sich mancher Schelm einen Spaß erlaubte und Kettenbriefe in Serie verteilte. "Zum 1.4. wird ICQ kostenpflichtig, es sei denn, Du schickst diese Nachricht an zehn Leute aus der Kontaktliste", oder "Schicke diese Nachricht an zehn (Warum eigentlich immer zehn?) Leute aus Deiner Kontaktliste und Deine Blume wird blau."
Geschichtsstunde: IC who?
Entwickelt wurde ICQ (kurz für "I seek you") von 1996 vom isrealischen Start-up Mirabilis. Und das auch nur, weil vier Studente nichts Besseres zu tun hatten. Der Messenger war einer der ersten seiner Art, kostenlos und entwickelte sich schnell zum Hit. 1998 übernahm AOL Mirabilis für 407 Millionen US-Dollar. Zu Spitzenzeiten zählte ICQ 100 Millionen Nutzer. Das war damals gefühlt die ganze Internetwelt.
Weil aber auch im Internet aller Ruhm vergänglich ist, verlor das Netzwerk über die Jahre zunehmend Nutzer an die wachsende Konkurrenz. 2010 konnte AOL dann ICQ für 187 Millionen US-Dollar an das russische Unternehmen Mail.ru verkaufen. 2013 waren von einst 100 Millionen Nutzern gerade noch elf Millionen übrig.
Erst 2014 folgte laut Bloomberg eine Kehrtwende. Innerhalb einer Woche luden eine Millionen brasilianische Nutzer den Messenger herunter. Schon damals sagte Igor Ermakov, Chef der Instant-Messaging-Abteilung von Mail.ru: "Unsere Priorität ist es, eine Nutzerbasis zu generieren." Richtig weg war ICQ also nie. Doch nun will man so richtig zurück an die Spitze.
Wer kennt noch sein Passwort?
Helfen sollen neue Clients für Windows und Mac, Apps für Android und iOS und Features wie Videotelefonie, Live-Chat und der Versand von bis zu vier Gigabyte großen Dateien. Neu sind die Funktionen nicht. Wer Videotelefonie betreiben will, kann das unter anderem in Skype, Hangouts oder Facetime erledigen. Zwei von drei Programmen stehen kostenlos für sämtliche Systeme zum Download oder als Web-App bereit.
Und mal ehrlich: Wer verschickt heutzutage schon noch Dateien - und dazu gleich noch vier Gigabyte große? In die Cloud hochladen, Link abrufen, verschicken. Zack, fertig: Filesharing! Für alles andere gibt es WhatsApp, den Facebook Messenger, Hangouts, Line, Threema, Hocker, Skype, iMessage. Ihr seht, wo das hinführt.
Das Killer-Argument gegen das Comeback ist aber: Niemand kann sich an seine ICQ-Nummer oder sein Passwort von damals erinnern. Und wer die Passwort-Recovery-Version nutzt, muss heute noch dieselbe E-Mail-Adresse benutzen wie damals, Ende der 90er. Vor fast 20 Jahren. Wir haben es hier in der Redaktion ausprobiert. Fast kein Kollege konnte sich anmelden. Nur ich selbst hatte die richtige Kombination von Nummer und Passwort noch irgendwo im Kopf. Ha!
ICQ goes MySpace
Hätten sich auch die Kollegen noch einloggen können, das Ergebnis wäre wohl das gleiche gewesen: Die Kontaktliste gleicht einer Geisterwüste. Der letzte Kumpel war zuletzt im November 2015 online. Sicher, ich könnte mir auch einen neuen Account anlegen. Dann müsste ich aber im Anschluss Überzeugungsarbeit leisten und all meine Kontakte bitten, wieder an der Blume zu schnuppern. Da ist es doch einfacher, ich bleibe mit meinen Freunden über WhatsApp, Facebook & Co. in Kontakt.
Letztendlich kommen die Neuheiten, wenn man sie so nennen mag, ein paar Jahre zu spät. Freuen können sich die diejenigen, die ICQ über die vergangenen Jahre die Treue gehalten haben. Ansonsten scheint ein Abgang à la MySpace sicher. Auch das einstmals größte Social Network der Welt versuchte 2013 einen Neuanfang, findet heute aber keine Erwähnung mehr. Totgesagte leben länger – oder bleiben in diesem Fall einfach tot.