Das Nokia 9 PureView ist das verkannte Smartphone des Jahres; ein kleines Genie. Einfach deshalb, weil es anders ist als die anderen – und Fotografie wieder zu Kunst werden lässt.
Wir haben uns daran gewöhnt, extrem schnell Resultate zu erhalten, weil Huawei P30 Pro, Samsung Galaxy S10 und Co. als Snapshooter konzipiert sind. Doch das Nokia 9 PureView möchte die Fotografie wieder als Kunst zelebrieren – und genau darin liegen seine Stärken: Wer die Schwarz-Weiß-Fotografie liebt und bereit ist, für das perfekte Bild ein bisschen zu arbeiten, der wird mit diesem Telefon und seinen fünf Zeiss-Linsen so richtig glücklich werden.
Das Comeback der Schwarz-Weiß-Fotografie
Die Fotografie ist traditionell eigentlich eine Kunst, die Zeit benötigt und von der Entschleunigung lebt. Fotografen durchstreifen die Natur, nehmen sich die Zeit für das perfekte Foto, experimentieren mit den Einstellungen. Smartphones haben die Fotografie demokratisiert, aber auch verwässert.
Wir sind es heute nicht mehr gewohnt, normale Fotos hochzuladen. Normal im Sinne von #nofilter. Bis es letztes Jahr genau diese Bewegung gab. Eine Bewegung von Menschen, die sich wünschten, Fotos wieder ohne Filter teilen zu müssen. Denn Filter geben Dramatik, sie verfälschen aber auch das Bild.
Kein Wunder, dass die besten Fotografen unserer Zeit – wie Annie Leibovitz oder Peter Lindbergh – die Natürlichkeit des Menschen suchen und große Stars wie Heidi Klum, Cameron Diaz und Helene Fischer in Schwarz-Weiß fotografieren; weil das Menschen nahbar macht, weil es auch bei großen Diven kleine Falten zeigt.
Zurück zu den Wurzeln
Die Schwarz-Weiß-Fotografie setzt die Gegenthese zu unserer heutigen Zeit: Wir überschminken Hautunreinheiten mit Filtern und machen das Wasser gerne noch ein bisschen blauer, weil Instagram. Als wir jedoch den ein oder anderen Foto-Trip mit dem Nokia 9 PureView verbringen, zeigt sich schnell: Nokia und sein Partner HMD Global eröffnen nicht die Möglichkeit Bilder im RAW-Format abzuspeichern, weil das als fancy Marketing-Slogan funktioniert. Sondern weil es dem Bild mehr Leben und Tiefe gibt.
So wird Fotografie zurück zu ihren Wurzeln geführt. Das Nokia 9 PureView ist kein einfaches Smartphone: Es ist nicht so schnell wie das Galaxy S10, es ist nicht so perfekt wie das Huawei P30, das eure Digicam in Rente schickt. Nein, aber es erfordert das, was wir verlernt haben – uns ein bisschen Zeit zu nehmen und Fotografie wieder als Kunst wert zu schätzen. Das Nokia 9 zwingt uns sanft dazu, einfach mal still zu halten und den Moment zu leben.
Fünf Zeiss-Linsen für Profi-Fotografen
Das Nokia 9 PureView ist schon rein technisch gesehen ein interessante Komposition: Fünf Kameras, verbaut in einem 8 Millimeter dünnen Body. Nokia hat schon immer mit Zeiss zusammengearbeitet, selbst in der Samsung-Huawei-Apple-Ära konnten die Windows-Phones in Sachen Low-Light-Performance den Großen oft die Show stehlen. Zeiss versteht sein Geschäft, schließlich kommen sie aus dem Highend-Bereich; stellen eigentlich in erster Linie Kameralinsen für tausende Euro teure Canon-Objektive her.
Wie also funktioniert dieses Nokia-Zeiss-System? Fünf Linsen mit jeweils 12 Megapixeln auf Blende f/1.8 und einer Brennweite von 28 mm schießen gleichzeitig ein Foto plus eine ToF-Linse für zusätzliche Tiefeninformationen. Drei davon sind monochrom, die 2,9 mal mehr Licht auf den Sensor fallen lassen. Dadurch erhalten wir insgesamt deutlich mehr Bildinformationen als bei einem klassischen Smartphone.
Alle für einen, eine für alle
Es erledigt also nicht eine Linse die Arbeit, sondern alle fünf. Heißt: Jede Linse des Nokia 9 PureView fokussiert auf unterschiedliche Bildbereiche und erstellt eine Depth-Map, eine Tiefenkarte des Objekts, mit insgesamt 1200 Layern/Bildebenen auf maximal 40 Meter Distanz. Die meisten Highend-Phones arbeiten nur mit zehn Bildebenen.
Jede Linse fokussiert unterschiedliche Bereiche des Bilds mit unterschiedlichen Belichtungszeiten in der Automatik. Schalten wir auf den Pro-Modus in der Kamera-App um, können wir aus fünf unterschiedlichen Weißabgleichen, von ISO 100 bis 3200 wählen, den Shutterspeed 1/500 - 10 Sekunden und die Belichtungskompensation zwischen -2 EV und EV wählen. Ungewöhnlich für die Smartphone-Fotografie.
Dadurch gewinnen wir Unmengen an Informationen, die zu einer RAW-DNG-Datei synchronisiert werden. Es ist, als würdet ihr mit fünf unterschiedlichen Smartphones gleichzeitig abdrücken, aber jedes wäre auf ein anderes Objekt im Bild fokussiert, mit anderer Belichtungszeit. Das ist schon ziemlich wow, es zeigt wo sich die Smartphone-Fotografie hinbewegt.
Ein Smartphone für Profis
Aber auch das muss gesagt sein: Es ist kein einfacher Weg für Nokia und HMD Global, denn das Synchronisieren dieser fünf Linsen braucht viel Zeit. Mitunter etwas zu viel Zeit, weshalb Updates Besserung bringen sollen. Auch ist das Nokia 9 PureView ein Smartphone für Profis. Ihr könnt damit unglaublich schöne Bilder mit exzellentem Dynamikumfang schießen, allerdings braucht es dafür Zeit für Bildbearbeitung, etwa mit Lightroom, direkt auf dem Telefon.
Allein, dass diese Profi-Software vorinstalliert ist, zeigt, in welche Richtung sich Nokia in Sachen Smartphone-Fotografie gerade entwickelt: in Richtung Profi-Smartphone-Fotografie. Heißt: Aus einem langweiligen Schuss in der U-Bahn wird ein Foto, welches eher einen DSLR-Charakter hat – mit richtig viel Dynamik, leuchtenden Farben, sehr viel Details.
Gerade auch am Boden, in die Tiefe gehend. Laden wir die Fotos im Test auf den iMac und vergleichen sie mit dem einer Canon-Spiegelreflexkamera, dann hält das Nokia 9 ähnlich viel Detailschärfe bereit.
Ein Smartphone für extrem kraftvolle Fotos
Der Grund, warum Fotografen RAW-Fotos bevorzugen, liegt in der Menge an Bildinformationen, die sich beliebig manipulieren lassen. Ihr könnt etwa einen leicht bewölkten Himmel durch das Runterziehen der Sättigung aussehen lassen wie einen Sturm. Oder wenn ihr eine Straße entlang fotografiert, dann möchte man oft in der Abendstimmung das die Fenster von Bürogebäuden stärker reflektieren, etwas kraftvoller wirken - auch das lässt sich hier leicht machen.
Das ist die größte Stärke des Nokia 9 Pure View, aber auch der Grund, warum es von den meisten Journalisten eher nicht empfohlen wird. Das Neuner ist kein Instagram-Phone. Anders als beim Huawei P30 zum Beispiel, braucht es viel Liebe in der Nachbearbeitung und auch ein bisschen Talent dafür.
Depth-Shots: Fünf Fotos jetzt, Fokus danach variieren
Ihr könnt euch das ungefähr so vorstellen: Ihr fotografiert eine Straße entlang und in der Software fokussiert ihr dann via Touch ein Fahrrad an, oder einen Bus oder die Lady, die gerade so schön mit ihren Stöckelschuhen über die Straße hetzt. Und könnt zum Beispiel nachträglich den Fokus auf sie setzen, weil sie das Bild lebendig und einzigartig macht.
So geschehen auch bei einem Event von Montblanc in Berlin: Toni Garrns strahlende Augen dienten mir beim Test ganz wundervoll als Fokuspunkt (siehe Beitragsbild). Ein anderes Beispiel: Wenn die Sonne scheint, wirft sie meist nur leichte Reflektionen auf den Boden. Wir können aber diese Reflektionen auf ein Maximum treiben und eine Art Marmorplatte so stark reflektieren lassen, als sei sie ein Spiegel. Das gibt dem Bild eine extreme Komponente, was spannend für Fotografen ist.
Und sonst so: Sexy Body, Android 9 mit Quad-HD-Display
Wunderschöner Body in dunklem, glänzenden Blau, leichter Chromschliff, Gorilla-Glas 5: Vom Design her gefällt uns das Nokia 9 Pure View sehr gut. Anders als alle anderen 2019 verzichtet Nokia auf eine Notch, entsprechend sind die Displayränder klar erkennbar, stören aber das Gesamtbild nicht.
Auch das Display gefällt: 1440 x 2880 Pixel auf 538 ppi, also richtig scharfes 2K. Die wenigsten Phones kommen hieran, auch die Helligkeit geht Richtung Samsung Galaxy S10. Das S10 hat 1200 Nits maximale Helligkeit, das Nokia 9 max. 700, was in Kombination mit dem HDR-Display für ein sehr gutes Serien-Erlebnis im Flieger nach London oder ICE nach Berlin sorgt. Hält auch lange durch, dank 3.320 mAh-Akku ist problemlos ein Tag drin, auch mit vielen Foto-Sessions.
Einzig beim Prozessor hat sich Nokia vergriffen: Qualcomms Snapdragon 845 ist mit der Synchronisierung überfordert und braucht oft zu lange im Processing, hier wäre der 855er die deutlich bessere Wahl gewesen. Auch hätten sie 12 statt 6 GB RAM verbauen sollen - dieses Telefon würde massiv von mehr Arbeitsspeicher profitieren.
Fazit: Aus Liebe zur Fotografie, aber nichts für Snapshooter
Mit dem Nokia 9 PureView gelingen euch besondere Bilder. Insbesondere, wer die Dramatik liebt, der wird mit der hohen Qualität seiner Schwarz-Weiß-Shots sehr glücklich werden. Auch ist die Technologie an sich faszinierend, diese Idee nachträglich Fokus-Punkte fürs Bokeh setzen zu können. Und ihr könnt unglaublich viel mit Lightroom rausholen.
Das Nokia 9 PureView (Preis: um die 650 Euro) ist aber kein Huawei P30 Pro, welches direkt das perfekte Foto liefert. Sondern eher ein Telefon für Fotografen, die gerne auch ein bisschen Zeit investieren wollen. Schade auch, dass man sich für den Snapdragon 845 mit 6 GB RAM entschieden hat. Es ist ein schönes, ein besonderes Telefon. Wir hoffen allerdings auf eine Special-Edition mit 12 GByte und 855er-Prozessor von Qualcom, denn der CPU-Star vom letzten Jahr tut sich etwas schwer mit der Mammutaufgabe.