#ausgruenden: Facebook – das endlose, blaue Karussell 

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Facebook Karussell (© http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/ CC: Flickr/dno1967b )

Es begann mit Neid. Da war damals diese blaue Seite, der braun gebrannte Norwegerinnen im Internetcafé im fernen Kreta entgegenlächelten, grinsten, nicht mehr loskamen vom klobigen großen PC-Monitor, während ich mit meiner blassen, deutschen Freundin abwechselnd E-Mails, Aktienkurse und Spiegel Online checkte – eine fatale Kombination.

So war das im Frühjahr 2007: Es gab noch kein iPhone, kein MacBook Air – und der Zugang zum blauen Fenster der Welt war mir verwehrt. Man kann nun nicht wirklich sagen, dass es an mir lag. Als Tech- und Wirtschaftsjournalist las ich inzwischen fast täglich über das vermeintlich nächste große Ding, das sein Gründer auch nicht für eine Milliarde Dollar an Yahoo verkaufen würde. An dieser Stelle wurde ich hellhörig.

Ich meldete mich zu Recherchezwecken an – und fand niemanden. Ich verschickte Einladungen – und bekam nichts zurück. Ich war Kyle aus South Park – und hatte 0 Freunde.

Aber Facebook war für die anderen. Ich war kein Student mehr, und meine Freunde waren nicht in diesem Social Network. Sie waren bei Xing, studiVZ oder allen Ernstes bei den Lokalisten. Vor allem waren sie offline. Ich meldete mich zu Recherchezwecken an – und fand niemanden. Ich verschickte Einladungen – und bekam nichts zurück. Ich war Kyle aus South Parkund hatte null Freunde. Ich loggte mich aus und vergaß Facebook für sechs, sieben Monate. Nicht, dass MySpace mich mehr interessierte, aber dann war es eben, was es war: das war ohnehin mein Lebensmotto.

Das Lachen, das Staunen, das Abtauchen in diese andere Welt

Ein halbes Jahr später kam der blaue Bildschirm mit einem Knall zurück. Ich wollte das, was die Norwegerinnen an diesem verregneten Frühlingstag hatten. Das Lachen, das Staunen, das Abtauchen in diese andere Welt: Alle halbe Stunde legten sie drei Euro im Internetcafé nach – wie war das bei einer einzigen Internetseite möglich, wieso wurde ihnen nicht langweilig? Die Freundin hatte ihre GMX- und Firmen-Mails durch und verabschiedete sich zu einem Latte Macchiato, ich war ihr sehr dankbar dafür, denn so hatte ich den Rechner für mich.

Ich checkte meine Aktien wieder und wieder bei Google Finance und gab vor, auf TheStreet.com Marktkommentare rauf und runter zu lesen, aber was ich wirklich tat, war die beiden Braungebrannten dabei zu beobachten, wie sie sich durch Bilder klickten, etwas drunter schrieben und wieder tosend in Lachen ausbrachen: „Waahas? Vibeke und Thomas? No way! Oh, Jannes Tochter ist aber groß geworden. OMG, Silje knutscht nicht wirklich mit dem Around-the-World-Traveller? Ist der noch in Stavanger?“

Das Gefühl, dass noch/wieder alles möglich war: Ich wollte dieses Facebook-Leben

Als ich Jahre später darüber nachdachte, warum es nicht mit der Freundin funktioniert hatte, kam ich irgendwann auf diesen Nachmittag in Rethymnon zurück.  Ohne zu wissen, was mich in dieser neuen Welt erwartete, veränderte sich etwas. Es war der Moment, den F. Scott Fitzgerald in The Crack-up beschrieb und Roger Willemsen Jahrzehnte später in Der Knacks auf seine eigene Weise nachzeichnete – der Moment, an dem sich etwas in meiner Zeitachse verschob:

„Der Knacks ist nicht ein Riss mit Diesseits und Jenseits, mit Vorher und Nachher, er ist unmerklich: er teilt nicht, er prägt. Er ist die Zone, in die die Erfahrung eintritt, wo sie verwittert und ihre Verneigung in sich aufnimmt.“

Oder einfacher mit Steve Jobs erklärt: „Etwas Neues kommt daher und verändert alles“ – nur weiß man das in dem Augenblick natürlich nicht. Heute erscheint es logisch: Ich wollte das, was die Norwegerinnen hatten. Die Verbindung mit allen und jeden. War das nicht, wofür das Internet eigentlich gemacht war? Die Verbindung in die ganze Welt. Das Gefühl, dass noch/wieder alles möglich war. Ich wollte dieses Facebook-Leben. Mit allen Konsequenzen. Und versuchte es zurück in Hamburg noch mal mit der Anmeldung.

Ein Klick, und die Zeitachse zwischen dem Damals und Heute schloss sich – und eine neue Ebene öffnete sich

Und plötzlich waren alle da in der Suche.  Der sieben Jahre vergessene Kollege aus New York, der jetzt seine Salsa Society hatte, die Sommerliebschaft aus dem zweiten Unisemester und sogar der inzwischen verheiratete Schulfreund mit seinem Kind. Ein Klick, und die Zeitachse zwischen dem Damals und Heute schloss sich.

Und eine neue Ebene öffnete sich. Neue Freunde kamen hinzu – aus den unterschiedlichsten Himmelsrichtungen. Facebook war 2007, 2008 noch ein sehr offenes Medium. Nach einer Woche hatte ich zehn Freunde, nach zwei zwanzig – die Hälfte neu aus dem Social Network. Aus Peru, aus Mexiko, aus Kroatien. Es war möglich: Facebook war das eigentliche Fenster zum Internet – die Einlösung des Versprechens der Vernetzung.

"Es ist ein Stich im Herzen, viel mächtiger als eine Erinnerung allein“

Seit zehn Jahren geht das nun so auf Facebook, seit sechs bei mir. Geliebt, gehasst, als selbstverständlich genommen – das ist der Lauf von Massenphänomen, den auch Facebook genommen hat. Doch als das Social Network diese Woche zehn wurde, schwappte nach den dauernden Nörgeleien der vergangenen Jahre um Privatsphäre-Einstellungen, einem immer unübersichtlicheren Newsfeed und abspenstigen Teenagern ein wahrer Lovestorm über. 

Facebook ist Teil unseres Lebens, ob wir wollen oder nicht. Warum es nicht mehr weggeht, hat das Social Network diese Woche auf seine ganz eigene Art im Einminüter Lookback demonstriert, der uns an einem sentimentalen Fleck trifft.

"Es ist ein Stich im Herzen, viel mächtiger als eine Erinnerung allein“, philosophiert Don Draper in einer der besten Mad Men-Episoden in einer Präsentation für Kodaks ersten Diaprojektor Carousel über die Macht der Nostalgie. "Dieses Gerät ist kein Raumschiff. Es ist eine Zeitmaschine. Es geht vorwärts, rückwärts. Es führt uns an einen Ort, an den wir gerne zurückkehren würden. Es ist kein Rad. Es nennt sich Karussell.  Es lässt uns reisen, wie ein Kind reist. Rund umher und wieder nach Hause... an einen Ort, wo wir wissen, dass wir geliebt werden."

…und so zücken wir die Smartphones, schießen wie verrückt Selfies, die wir nach einer Woche wieder vergessen – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.

Der blaue Monitor, in den wir den halben Tag hineinstarren, ist das Kodak Carousel unserer Tage. Facebook ist unsere Zeitmaschine, die viele Nachahmer gefunden hat – keine jedoch fliegt so zielsicher. Mal kommen sie als veredeltes Bild daher, das den Moment festhalten will, mal zerstört es sich nach wenigen Sekunden wieder wie in Mission Impossible, mal reicht eine Botschaft, kürzer als eine SMS, um unser modernes Leben mit Sinn zu füllen.

Doch wie in einem Fitzgerald-Roman tun wir das rückwärtsgewandt – aus Gründen, die uns verborgen bleiben, die wir nur erahnen können und bedeutungsschwanger verschlagworten: #ausgruenden

…und so zücken wir die Smartphones, schießen wie verrückt Selfies, die wir nach einer Woche wieder vergessen haben – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.

CURVED-Chefredakteur Nils Jacobsen ist ein Facebook-Fanatiker. Er weiß, dass er zu viel Zeit im Social Network #1 verbringt, aber er hat längst den Versuch aufgegeben, das ändern. Facebook ist wie fritz-kola: nicht wirklich gesund, aber auch nicht zu ändern. In der Kolumne #ausgruenden beschreibt Nils die kleinen und großen Geschichten, die uns die Social Networks bescheren: von vergänglichen Facebook-Freundschaften über die Selfie-Sucht russischer Instagramerinnen bis zu seltsamen Snapchat-Begegnungen.  

Wie findet ihr das? Stimmt ab!