Nach Arrow, Flash, Agents of Shield, Agent Carter und Gotham nun Daredevil: Die Reihe der Superhelden, die im Serienformat mehr oder weniger unterhaltsam für Recht und Ordnung sorgen, reißt nicht ab — der jüngste Ableger von Netflix allerdings macht Einiges anders als die bisherigen Formate: Düsterer, menschlicher und vor allem deutlich brutaler geht es in Netflix' Daredevil zur Sache.
Spoiler-Warnung: Der folgende Text basiert auf der ersten, bereits komplett veröffentlichten Staffel von Daredevil. Auch wenn die Handlung nicht explizit Thema der folgende Absätze ist, werden Ereignisse, Konzepte und Entwicklungen referenziert, die erst im Laufe der Serie stattfinden. Wer also gänzlich unbedarft in Daredevil einsteigen möchte, liest jetzt nicht weiter.
Superhelden sind bekanntermaßen urbane Zeitgenossen: Sie leben in der Großstadt, sie kämpfen in der Großstadt und vor allem streben sie mit all ihrem Tun danach, ihre Großstadt zu retten. Jim Gordon setzt Leib und Leben für Gotham City aufs Spiel, Arrow rettet Starling City vor dem drohenden Untergang, der Flash jagt zum guten Zweck durch Central City. Und Daredevil, tagsüber der blinde Anwalt Matt Murdock, setzt alles daran, den tatsächlich existierenden New Yorker Stadtteil Hell's Kitchen von diversen Großkriminellen zu bereinigen.
In Netflix' neuestem Streich begeben wir uns aber nicht in das reale, gentrifizierte Hell's Kitchen aus unserer Welt, sondern in eines, das durch das bunte Treiben der Avengers ein paar Jahre zuvor zerstört wurde und bis jetzt unter den Nachwehen dieser Tragödie leidet: Daredevils Höllenküche ist dreckig, dunkel und im Würgegriff von kriminellen Kräften. Das erinnert ein wenig an Gotham City im Kleinen (ja, die Parallelen zu Batman sind und waren schon immer da, auch wenn der eine dem Marvel- und der andere dem DC-Universum entstammt). Dass es denkbar unrealistisch ist, dass sich ein Kingpin und sein Syndikat nur auf einen kleinen Stadtteil konzentrieren und ein Held zunächst nur diesen bereinigen möchte, kann im Rahmen eines Superhelden-Formats schon mal durchgehen — das Setting gibt Daredevil beinahe etwas von einem Videospiel: Räumen wir erst einmal diese erste Region auf, in dem wir uns von Bösewicht zu Bösewicht hangeln, bis wir den Oberboss erreichen. Danach sehen wir weiter ... dass dieser dunkle und blinde Rächer sich zunächst in einem selbstgemachten Kostümchen durch die Gassen und Korridore Hell's Kitchens prügelt und erst in der letzten Folge der ersten Staffel sein finales rotes Kostüm erhält, unterstreicht diesen Videospiel-Eindruck.
Brutaler als Arrow, menschlicher als Batman
Wer dem DC-Helden Arrow von Beginn an zugesehen hat, der in Serienform seit Ende 2012 mit Pfeil und Bogen Starling City zu retten versucht, erinnert sich möglicherweise an den Paradigmen-Wechsel, den die Macher dieser Serie zu Beginn der zweiten Staffel vollzogen haben (oder mussten): Schreckte Arrow zu Beginn nicht vor tödlicher Gewalt gegen seine Widersacher zurück, wurde die Serie danach unter der Vorgabe, der Held habe das Versprechen, kein Killer mehr zu sein, seinem sterbenden Freund geben müssen. Auch Daredevil weigert sich wie der Arrow, wie Batman oder Flash selbst die übelsten Kriminellen zu töten — und dennoch unterscheidet sich die Gewalt in der Netflix-Serie deutlich von der der anderen TV-Produktionen aus dem Marvel- und DC-Universum.
Zum einen ist die gezeigte Gewalt durch die Hände des Kingpin und der anderen Kriminellen gegen deren Gegner, teils aber auch gegen sich selber, deutlich expliziter und erreicht beinahe das Niveau von Game of Thrones: Hier werden auch schon mal Köpfe mit Autotüren vom Torso getrennt, mit Bowlingkugeln sekundenlang auf Schädel eingedroschen oder Gangster, die zuviel Angst vor dem Oberboss und seiner Enttäuschung über das eigene Versagen haben, richten sich selbst, in dem sie sich buchstäblich sehenden Auges in Metallsplitter stürzen — das tut beim Hinsehen oft genug richtig weh und macht Daredevil damit garantiert nicht jugendfrei.
Zum anderen quält sich der seelisch ohnehin geschundene Murdock konstant durch seine Zweikämpfe: Zwar ist auch Daredevil trotz seiner Blindheit den meisten seiner Gegner kämpferisch überlegen. Aber selten sah man als Zuschauer so deutlich, wie sehr ihn jeder Kampf anstrengt und wie knapp aber oft Niederlangen oder gar dem Tod entrinnt. Den Höhepunkt findet dieses Phänomen in einer dreimintügen Kampfszene in einem Hausflur — eine eindrucksvolle Hommage an Oldboy —, in der ein schön stark lädierter Murdoch mit stetig schwindenden Kräften mehrere Mobster auseinandernimmt, um ein Kind zu retten.
Traurige Gegenspieler
Das macht den Daredevil menschlicher als Arrow oder Batman, die beiden "Rich Kids", die zwar auch vor Körperlichkeit nicht zurückschrecken, sich aber mehr auf ihre Gadgets und Waffen, denn ihre Körper verlassen und nur in Ausnahmefällen Prügel einstecken müssen — für Daredevil ist jeder Kampf eine Qual, für Murdock scheint zuweilen das Sein eine Qual, die er in Gesprächen mit seinen Bekannten im Alltag nur schwer hinter einem gezwungenen Lächeln verbergen kann.
Genauso gequält wirkt nur sein Gegenspieler Wilson Fisk, der Kingpin, der dem Zwang unterliegt, die Stadt zerstören und neu aufbauen zu müssen. Wenn der über seine Vision für New York respektive Hell's Kitchen spricht, ist das nie euphorisch, sondern beinahe monoton deprimiert. Wenn er versucht, eine Galeristin für sich zu gewinnen, ist das nicht mit der Präsentation von Macht und Stärke verbunden, sondern eher unbeholfen und traurig, fast schon devot — ohne dabei aber zum speichelleckenden Pinguin aus Gotham zu verkommen. Mit Fisk und Murdock stehen sich zwei deprimierte Randgestalten gegenüber, mit Daredevil und dem Kingpin zwei bis zur Selbstaufgabe Getriebene.
Auch andere Charaktere werden vielschichtig gezeichnet: Zwei Russenmafia-Brüder, die widerwillig für Kingpin arbeiten, beispielsweise haben eine bewegte Geschichte und stellen durchaus in Frage, ob Amerika sie nicht von "ihrem Weg" abgebracht hat und lassen immer wieder durchblicken, dass sie nicht einfach nur böse und brutal sind — obwohl sie sich die meiste Zeit so geben. Der obligatorische Reporter, der sich parallel zu Daredevil mit den althergebrachten Tugenden des Journalismus der Missstände in seiner Stadt annehmen möchte, leidet privat unter Geldsorgen und der Krankheit seiner Frau. Und er ist kein Draufgänger sondern gemahnt stets zur Vorsicht beim Kampf gegen Korruption und Kriminalität.
Düsteres Popcorn-TV statt "The Wire"
Dennoch, von der Tiefe und Intelligenz eines "The Wire", an dem sich die Macher der Serie nach eigener Aussage mehr orientiert haben als an anderen Superhelden-Serien, ist Daredevil trotz der genannten Besonderheiten weit entfernt — dafür bleibt das Verbrechen an sich zu eindimensional, dafür sind die korrupten Polizisten, die aufopfernde Krankenschwester, die attraktive Sekretärin und der lustige aber unbedarfte Sidekick von Anwalt Murdock zu klischeehaft und oberflächlich dargestellt. Und selbst die Getrieben- und Zerissenheit des Daredevil, des Kingpin, der russischen Brüder und des Reporters kann maximal für das Genre als tiefgründig durchgehen. Nein, Daredevil ist keine Milieustudie und auch kein Charakterstück,den Vergleich mit jüngsten Serien-Highlights à The Wire, The Leftovers oder der grandiosen BBC-Produktion Luther, dessen Protagonist ebenfalls als gefallener Superheld durchgehen könnte, hält Netflix' blinder Rächer nicht stand.
Muss er aber auch nicht — Daredevil ist eine Superhelden-Serie, die etwas düsterer, etwas menschlicher, etwas interessanter daher kommt als das, was uns in dieser Form bisher serviert wurde. Und damit ist Netflix' Debüt in diesem Genre als mehr als nur gelungen zu bezeichnen.