Es ist ein Lesestück, das Apple-Fans so intime Einblicke in das Innenleben des Kultkonzerns bietet, wie seit der Walter Isaacson-Biografie nicht mehr: Das 16.000 Worte starke Porträt von Jony Ive in The New Yorker. Neben unzähligen Insides zu der Entwicklung von Apple-Produkten zeichnet das Porträt aber auch das Bild eines Designchefs jenseits der Belastungsgrenze: Was würde Apple eigentlich tun, wenn Jony Ive irgendwann einmal seine Regentschaft beendet?
Der Superstarstatus wäre noch untertrieben. Kein anderer Angestellter in Cupertino, nicht mal CEO Tim Cook, repräsentiert Apples Werte so sehr wie Jony Ive. Der 47-jährige scheue Brite ist das Verbindungsstück zur Steve Jobs-Ära: Alle Produkte, die Apple in seinem phänomenalen iZyklus seit der Rückkehr des Gründers in den vergangenen 18 Jahren auf den Weg brachte, hat die heiligen Hallen von Jony Ives Designstudio durchlaufen – vom iMac über den iPod, das iPhone, iPad und nun die Apple Watch.
Keine Frage: Jony Ive ist Apple, wie es das US-Renommeemagazin The New Yorker in seinem bemerkenswerten 16.000 Worte starken Porträt auf den Punkt bringt. Wenn es einen Gradmesser für Apples unglaublichen Erfolg gibt, auf den sich sowohl Fanboys als auch Kritiker einigen können, dann ist es wohl das einzigartige Design des Techpioniers, das den Kultstatus maßgeblich begründete. Designed by Apple in California steht auf jedem Produkt, das unter dem Apfel-Logo verkauft wird, ganz so, als wollte Apple die tradierte Beschreibung der Produktionskette außer Kraft setzen: Nicht wo es hergestellt wurde, ist entscheidend, sondern, wer es wo designt hat.
2006 von der Queen zum Ritter geschlagen
Dabei könnte der Slogan genauso gut heißen: "Designed by Jonathan Ive in California" – das nämlich ist der Name des Mannes, den die Apple-Fangemeinde nur "Jony" nennt und seit der Rückkehr von Steve Jobs federführend die Produkte des iZyklus gestaltet hat. Sosehr der charismatische Verkäufer Jobs die Massen begeisterte, sosehr mag der 47-jährige Brite die Rolle im Hintergrund. Ive, der 2006 von der Queen zum Ritter geschlagen wurde, liebt die Zurückgezogenheit des Designstudios auf dem Apple Campus, in dem er, abgeschottet wie in einem Hochsicherheitstrakt mit verdunkelten Fenstern, besessen bis ins letzte Detail mit seinem Team an neuen Entwürfen feilt.
Jony Ive ist schon als Erscheinung ein Phänomen. Der in Chingford, London, geborene Brite wirkt in seiner durchtrainierten, stämmigen Statur wie ein Footballspieler und spricht mit sanfter Stimme doch so bedächtig wie ein Philosophieprofessor. Als Mann mit dem "besten Geschmack in der Welt" adelte Tim Cook seinen kongenialen Partner im vergangenen Jahr, von dem Apples Zukunft nicht minder abhängt, als vom Management-Geschick des Konzernchefs. Der Verkaufserfolg des wertvollsten Technologiekonzerns der Welt ist am Ende unentwirrbar mit dem Wow-Gefühl verbunden, das die von Ive gestalteten Produkte immer wieder entfachen.
Dabei wäre fast alles anders gekommen: Der seinerzeit 30-Jährige, der bereits seit 1992 bei Apple arbeitet, war aufgrund der depressiven Stimmung, die unter Gil Amelio herrschte, drauf und dran, noch vor der Rückkehr von Steve Jobs zu kündigen. Jobs wiederum wollte das Comeback mit einem spektakulären Stardesigner einläuten und unterbreitete der deutschen Designlegende Richard Sapper, der heute auf eine 60-jährige Karriere zurückblicken kann und u.a. IBMs Think Pad entwarf, ebenso den Chefposten mit einer jährlichen 30 Millionen Dollar-Vergütung wie Ferrari-Designer Giorgetto Giugiaro, doch die beiden Altstars winkten ab.
Dann traf Jobs auf Ive und war von der Arbeitsweise und den Designvorstellungen des aufstrebenden Jungstars, der so viel mit Jobs’ eigenen Idealen gemein hatte, begeistert.
Mit "Einfachheit ist die ultimative Perfektion" hatte Jobs bereits 1977 den Apple II beworben – ein Leitmotiv, dem Jobs Zeit seines Lebens verbunden blieb. Gemein ist allen Apple-Produkten ein ganz wesentliches Grundprinzip: Weniger ist mehr. Ist es nicht einfach und minimalistisch designt, ist es nicht von Apple.
Original-iMac-Design: Inspiration durch die Konfektindustrie
Jony Ive hob diesen Anspruch mit dem ersten iMac, der 1998 die Richtung des späteren iProduktzyklus vorgeben sollte, auf eine neue Ebene: Einfachheit konnte auch bunt und modern sein, wie jüngst die poppig gestalteten iOS 7-Logos beweisen. Ive ließ sich bei der Gestaltung von der Konfektindustrie inspirieren und entwickelte das Design des revolutionären Macintosh-Computers aus buntem, transparentem Kunststoff.
Es folgte der iPod, das iPhone, das ultraflache MacBook Air und das iPad – und zwischendurch immer wieder Designmeisterwerke für die Galerie wie der Power Mac G4 Cube 2000. Für Ive, dessen Designverständnis maßgeblich von Braun-Designer Dieter Rams beeinflusst wurde, ist der Weg das Ziel. Der bescheidene Brite ist sich bewusst darüber, dass auf diesem Weg einiges passieren kann – und es nur die wenigsten, die allerwenigsten Ideen aus seinem Forschungslabor in Cupertino in die Fertigungshallen von Festlandchina schaffen.
"Wenn ich einen spirituellen Partner bei Apple habe, ist es Jony" - Steve Jobs über Jony Ive.
"Bei einem ganz großen Teil unserer Entwicklung ist nicht klar, ob wir in der Lage sind, ein Problem zu lösen. Bei einem beträchtlichen Teil unserer Zeit wissen wir nicht, ob wir eine Idee wieder verwerfen müssen oder nicht. Das war immer so, beim iPod, iPhone oder iPad", erklärt Ive gegenüber dem britischen Traditionsblatt The Telegraph.
Wie wichtig Ive für Apple ist, verhehlte Jobs nicht. "Wenn ich einen spirituellen Partner bei Apple habe, ist es Jony", diktierte der Apple-Gründer Biograf Walter Isaacson. "Der Unterschied, den Jony ausmacht – nicht nur bei Apple, sondern in der ganzen Welt –, ist enorm. Er ist in jeder Hinsicht eine unglaublich intelligente Person", adelte Jobs seinen Chefdesigner. Der lange Jahre mit Jobs befreundete U2-Leadsänger Bono pries Ive in seiner Würdigung zu den 100 einflussreichsten Personen der Welt im Time Magazine unlängst unisono: "Sein Genie liegt nicht nur darin zu sehen, was andere nicht können, sondern wie er es einsetzt".
Mit Tim Cook langfristig an Apple gebunden
Entsprechend logisch erscheint es, dass Nachfolger Tim Cook Ive rechtzeitig enger an sich und Apple band und ihn nach dem Ausscheiden Forstalls entscheidend beförderte: Vom Chefdesigner der Hardware-Produkte zum Designverantwortlichen für alle Apple-Produkte, inklusive der Software.
"Die Mitteilung macht deutlich, dass Ive dem Unternehmen in der näheren Zukunft erhalten bleiben dürfte", erklärte seinerzeit Piper Jaffray-Staranalyst Gene Munster. "Zusammen mit Tim Cook, dessen Vertrag noch neun Jahre läuft, sieht es so aus, als ob die beiden wichtigsten Manager sich langfristig an Apple gebunden hätten." Euphorischer wurde der intime Apple-Kenner John Gruber (Daring Fireball): "Ich glaube, man kann gar nicht genug betonen, was für eine große Bedeutung der Managementwechsel hat", fand der Blogger.
Apples Zukunft ist unentwirrbar mit Jony Ive verbunden
Solange Ive für Apple designt, scheint der Kultkonzern seine Lebensversicherung zu besitzen. Doch nichts währt bekanntlich für immer. Als Steve Jobs, von seinen Krankheiten gezeichnet, immer mehr aus dem operativen Geschäft verschwand, sank auch Ives Einfluss. Grabenkämpfe mit Emporkömmlingen wie dem damaligen iOS-Chef Scott Forstall waren die Folge.
Tim Cook tut gut daran, Jony Ive weiter die Freiheiten zu lassen, Rückendeckung zu geben und Wertschätzung zu zollen, die der Designchef unter Jobs besaß. Die Art und Weise, wie sich Apple nach außen verkauft, hängt letztlich fast sklavisch vom Geschmack eines 47-jährigen Familienvaters ab, dem immer mal wieder nachgesagt wurde, er würde wegen seiner zwei Kinder irgendwann gerne zurück nach England übersiedeln.
Jony Ive würde diese Einschätzung so sicher nicht stehen lassen. Für ihn sind Apples Designmeisterwerke das Ergebnis von Teamarbeit. "Wir entwerfen heute Produkte in exakt derselben Weise wie vor zwei Jahren, fünf Jahren oder zehn Jahren", erklärt Ive dem britischen Telegraph. "Es ist nicht so, dass einige wenige von uns auf diese Weise arbeiten, sondern eine große Gruppe von Leuten", beschwört Ive den ungebrochenen Mannschaftsgeist bei Apple.
"Eine wirklich pragmatische Optimierung. Naja..." – Jony Ive über die hervorstehende iPhone 6-Kamera
Dieses Mantra wiederholte Ive auch im "New Yorker"-Porträt, das so intime Einblicke in die Arbeit bei Apple bietet, wie es sie seit der Steve Jobs-Biografie von Walter Isaacson vor mehr als drei Jahren nicht mehr gab. Wir lernen etwa:
– Dass Apple bereits seit dem iPhone 4 an größeren Modellen arbeitete, sie aber verwarf, weil die Prototypen "nicht überzeugend" genug waren.
– Dass Apple für den iPhone 6 Plus-Launch mit noch größeren Modellen hantierte und etwa ein 5,7 Zoll großes Display in Erwägung zog.
– Dass Jony Ive am Ende nicht zufrieden mit der Verbauung der neuen iPhone-Kamera war, die ein Stück aus dem Gehäuse herausragt. "Es war eine wirklich pragmatische Optimierung", ringt sich Ive ab. "Na ja..."
– Tim Cook ist kein Fan des Designs der Beats-Kopfhörer. "Hätte Jony Ive sie so designt?" fragt Cook rhetorisch. "Offensichtlich lautet die Antwort 'nein'." Cook erklärt weiter: "Wir haben sie nicht für das gekauft, was sie sind, sondern sein können."
"Das vergangene Jahr war das schwierigste, seit ich bei Apple bin" - Jony Ive über 2013/14
Einen der interessantesten Einblicke bietet Autor Ian Parker indes gegen Ende der 20-Seiten-Reportage, als er Ive mit den vielsagenden Worten zitiert: "Das vergangene Jahr war das schwierigste, seit ich bei Apple bin". Gesagt im Herbst 2014 um die iPhone 6- und Apple-Keynote herum, gemeint rückblickend in Bezug auf Apples großes Krisenjahr 2013, in dem sich die Gewinne erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt wieder rückläufig entwickelten und die Frage wie ein Elefant im Raum stand, ob Apple noch ein "One more Thing" in sich trägt wie das iPhone.
Für eine positive Antwort in Form der Apple Watch, die bekanntlich in der Entwicklung sehr herausfordernd war, hat Jony Ive so hart gearbeitet wie vielleicht nie in seiner Karriere. Wir lernen im New Yorker, dass Ive im vergangenen Jahr ausgebrannt wirkte und kurz nach der Keynote an einer Lungenentzündung erkrankte. Erstmals seit er bei Apple begann, nahm er daraufhin einen dreiwöchigen Urlaub.
Ive designt alles: Apple Watch, Apple Store, Apple Campus
Was für ein Wunder. Wir lernen, dass die Apple Watch zum Großteil "Jony Ives Baby" ist, dass er mit Angela Ahrendts das Redesign der Apple Stores vornimmt, dass Ive mit den Stararchitekten von Foster + Partners ("Norman's Boys") das Design des Apple Campus entwickelt und finalisiert: "Du kannst dein Gehirn nicht outsourcen", merkt Ive beiläufig zu seiner Arbeitswut an. Das neue Hauptquartier soll schließlich ausdrücken, "wie wir die Welt sehen".
Ive, der luxuriös in San Francisco lebt und damit rund eine Autostunde vom Apple Campus entfernt wohnt und seit einem Jahr im Bentley zur Arbeit chauffiert wird, arbeitet zwölf Stunden am Tag. Mindestens. Bleibt nur die Frage: Wie lange noch?
Steve Jobs war sein bester Freund, dessen Erbe zu bewahren, zur Lebensaufgabe für die Weggefährten Ive und Cook geworden ist. Es sieht so aus, als hätten sie zumindest einen Pakt bis ins nächste Jahrzehnt geschlossen. Tim Cook hat sich vertraglich zumindest bis 2021 gebunden, Jony Ive kann die Dauer seiner Regentschaft als Designkönig selbst bestimmen.
Ive-Newson: Neues Dreamteam für die halbe Ewigkeit?
Doch irgendwann könnte sich wieder das Leben einmischen. Ive ist ein Künstler. Eine Garantie, dass Ive nach 17 Jahren in Cupertino Apple auch die nächsten 17 Jahre erhalten und dem iPhone-Hersteller bis zur Rente bewahrt bleibt, gibt es nicht.
Als Apple im vergangenen Jahr ziemlich überraschend die Verpflichtung des Stardesigners und Ive-Freundes Marc Newson bekannt gab, konnte man daraus auch eine Backup-Lösung lesen. Newson ist mit 51 zwar vier Jahre älter als Ive, aber entsprechend auch unverbrauchter. Steve Jobs' Witwe Laurene Powell deutet im Porträt an, dass eine veränderte Struktur in Form eines Tandems Ive-Newson vielleicht für neue Nachhaltigkeit sorgen könnte. Newson könnte für Ive zum spirituellen Partner werden, der er für Steve Jobs war.
Auch wenn viel dafür spricht, dass Ive der künstlerische Hunger antreibt, das nächste und übernächste "One more Thing" zu erfinden und dann zu designen – das bei seiner Autobegeisterung durchaus das iCar sein könnte –, gibt es keine Gewähr für den Designchef Jony Ive im Jahr 2025. Der Tag X wird eines Tages kommen. Apple-Fans werden hoffen, dass „eines Tages“ eine Variable ist , die sich solange wie möglich verschieben lässt.