Die Tests und Reviews sind veröffentlicht und deren Ergebnisse sind ziemlich eindeutig: Samsungs Galaxy S6 ist das beste Smartphone der Koreaner, vielleicht das beste Android-Smartphone bislang und sogar eines der besten Smartphones überhaupt. Aber es ist noch mehr als das — nämlich ein weiterer Nagel im Sarg der Top-Smartphones im Kunststoff-Gehäuse.
Das iPhone war edel und wertig, Android-Smartphones billig und praktisch — dieser Konflikt galt in den Anfangsjahren des mobilen Betriebssystems von Google, als sich Hersteller wie Sony, HTC, LG und eben auch Samsung mit eher pragmatisch designten Kunststoff-Smartphones gegen die Produkte aus Cupertino aufzustellen versuchten. Das war bis zur Einführung des iPhone 4 mit seinem Aluminium-Rahmen und der glasbedeckten Rückseite soweit okay, danach aber wurde der Ruf nach schickeren Android-Geräte lauter.
HTC war zwar einer der ersten Hersteller, der schön früh Geräte im Aluminium-Unibody-Design herausbrachte, auch Sony begann ab 2012 seinen Xperia-Geräte optisch besonders ansprechender zu gestalten und veröffentlichte mit dem ersten Xperia Z-Modell Anfang 2013 ein Gerät mit Polyamid-Rahmen und Glasrückseite. Richtig wurde die Diskussion um Aussehen und Haptik der Android-Smartphones aber erst angeheizt, als HTC im Februar 2013 sein One M7 veröffentlichte, das erstmalig als wirklich "schön" galt und eindrucksvoll bewies, dass ein Android-Gerät sogar attraktiver als ein Apple-Smartphone sein kann.
Seither ist Design eigentlich ein wichtiger Faktor in der Android-Welt geworden — und dennoch haben sich sämtliche Hersteller bis auf HTC und zu Teilen auch Huawei im Ergebnis weiterhin zurückgehalten oder waren schlicht nicht in der Lage, umwerfende Smartphones zu produzieren: Wo die Taiwaner mehr oder weniger erfolgreich versuchten, mit dem One M9 weiterhin den Look ihrer Geräte zu verbessern, stagnierte Sony bei ein und demselben Design, während allen voran Samsung unbeirrt weiter auf Kunststoff in mehr oder weniger liebloser Umsetzung setzten.
Spätestens 2014 manifestierte sich aber auch in Geräten wie dem Moto X 2014, dem LG G3 sowie zahlreichen Modellen der neuen Wettbewerber aus China, dass neue Designtrends auch von der breiten Masse der Unternehmen gesucht, wenn auch nicht immer gefunden wurden. Und irgendwann kam dieser Paradigmenwechsel auch in Seoul an ...
Samsungs bisheriger Negativ-Standard
In den vergangenen Jahren hatte Samsung quasi einen Negativ-Standard gesetzt, schließlich waren die Koreaner nicht irgendein Handy-Bauer, sondern das Unternehmen, das für viele Käufer und Nutzer bis heute gleichbedeutend mit Android steht und somit die große und für viele einzige (bekannte) Alternative zum iPhone darstellt. Was Samsung in den vergangenen Jahren getan hat, hat die Entwicklung des Google OS mitbestimmt — und insofern hing die Evolution des Designs der Android-Smartphones zu einem gewissen Grad stets von den Koreanern ab.
Dadurch dass die Koreaner mit dem OnePlus' One, die beide ebenfalls aus Kunststoff bestehen, allerdings etwas mehr Aufwand hinsichtlich ihrer Gestaltung und Verarbeitung aufweisen.
Unter dem Codenamen Project Zero stellte Samsung im vergangenen Jahr Schritt für Schritt sein Design-Paradigma um und brachte nach Galaxy A-Modellen eine ganze Mittelklasse-Serie im Metallgehäuse heraus. Und stellt Anfang März in Barcelona dann eben den Höhepunkt dieser Bemühungen vor: das mit Alurahmen und Glasrückseite bewehrte Galaxy S6 sowie das S6 edge mit dem abgewinkelten Display.
Man mag geschmacklich vom S6 und S6 edge halten, was man möchte — ob nun iPhone 6, One M9 oder ein ganz anderes Gerät schöner ist oder ob das S6 die Krönung guten Smartphone-Designs darstellt, liegt im Auge des Betrachters. Nicht von der Hand zu weisen ist aber, das beide Modelle einen gewaltigen Fortschritt gegenüber den bisherigen Galaxy S-Modellen darstellen und Samsung mit dem aktuellen Flaggschiff endlich auch in Sachen Materialwahl und Verarbeitung in der Spitze der Smartphone-Welt angekommen ist. Gleiches gilt derweil für die in der Mittelklasse angesiedelte Galaxy A-Serie.
Project Zero wird branchenweite Auswirkungen haben
Das Problem — oder auch de Chance, je nach Sichtweise —, das sich dadurch für die gesamte Branche ergibt, ist folgendes: Mit dem Wegfall der impliziten Legitimation durch Samsung werden sich Hersteller, die bislang ebenfalls auf Kunststoff gesetzt haben, selbst wenn das kunstvoller und ideenreicher geschehen ist, zukünftig zumindest schwerer tun, Top-Modell in Plastik zu packen. Die Ansprüche der Masse werden mit dem Galaxy S6 steigen – hinzukommt, dass auch das iPhone 6 weiterhin vorgibt, wie ein Smartphone aussehen muss, um dem kollektiven ästhetischen Empfinden gerecht zu werden.
Natürlich ist Kunststoff keine per se schlechte Materialwahl für ein Smartphone, ganz im Gegenteil: Er ist leicht, er ist in vielerlei Hinsicht robuster als Glas, kratzresistenter als Aluminium und bereitet weniger Schwierigkeiten bezüglich der Empfangs- und der Sendeleistung von Smartphones. Und er ist günstiger — und günstiger zu verarbeiten. Fraglich ist, ob es den Herstellern, die nicht auf ein Nischenpublikum abzielen, sondern ebenfalls in die breite Masse zielen, gelingen wird, diese Vorteile auch an den potenziellen Kunden zu verkaufen. Den die Masse giert derzeit nun mal nach "edel".
Ob das nun dazu führt, dass über kurz oder lang alle Smartphone-Player ihr Geräte-Design umkrempeln werden oder müssen, bleibt abzuwarten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass LG sein kommenden G4 kurzfristig noch in ein Alu-Gehäuse pressen wird oder das Sony mit dem Z4 endlich mal wieder einen frischen Look präsentiert. Und auch OnePlus wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Nachfolger des One erneut in Polycarbonat kleiden. Aber sie werden es allesamt deutlich schwerer haben, diese Tatsache zu legitimieren und in der Folge gegen iPhone 6 und Galaxy S6 nennenswerte Verkaufserfolge zu erzielen.
Und insofern haben Samsungs Galaxy S6 und Project Zero Auswirkungen, die weit über das Standing und die Zahlen des koreanischen Konzerns hinausgehen. Das ist für Samsung toll und man darf dem Unternehmen zum gelungenen Paradigmenwechsel gratulieren und ihnen sogar ein wenig Respekt dafür zollen. Den anderen Herstellern bleibt zu wünschen, dass sie es verstehen werden, sich diesen neuen Gegebenheiten anzupassen.