Alle Jahre wieder um diese Zeit geht der Blick zunächst zurück, dann nach vorn: Wie war das Jahr, wie wird das nächste? Zehn Denkanstöße für das Tech-Jahr 2015.
"Prognosen sind äußerst schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen“ – Mark Twain.
Ewig lockt der Blick in die Glaskugel.
Zugegeben: Ich kann leider nicht in die Zukunft sehen. Und doch ist mir diese Kaffeesatzleserei mit Statistiken, Wahrscheinlichkeiten und dem Vergleich zwischen „hätte-sein-können“ und „wurde-wahr“ ein besonderes Vergnügen, Jahr für Jahr.
Begonnen hat alles mit den längst legendären „10 Surprises“ von Byron Wien, dem renommierten Anlageexperten von Morgan Stanley. Seit 30 Jahren veröffentlicht Wien seine zehn möglichen Überraschungen nun schon – in erster Linie die Finanzmärkte betreffend.
Ich habe den Gedanken aufgenommen und in den vergangenen zwei Wochen darüber nachgedacht, welche aus heutiger Sicht eher ungewöhnlichen Szenarien sich in den kommenden zwölf Monaten ereignen könnten.
Zum Leseverständnis: Die Überraschungen sind als solche gedacht – eher als mögliche, zugespitzte Entwicklungen denn als akkurate Prognose. Es handelt sich um Szenarien, denen ich eine gewisse Wahrscheinlichkeit von zumindest 50 Prozent zubillige, deswegen aber nicht zwangsläufig darauf wetten würde – es sind Denkanstöße, teilweise nicht immer hundertprozentig ernst gemeinte. Sowie: Die betrachtete Entwicklung einer zugrunde liegenden Aktie stellt in keiner Form eine Prognose und schon gar nicht eine Anlageempfehlung dar.
1. Apple wird das erste Billionen-Dollar-Unternehmen der Geschichte
Was kommt nach einem Rekordjahr? Ein weiteres Rekordjahr! Dass 2015 so weitergeht, wie 2014 aufgehört hat, ist an sich keine Überraschung – die Ausmaße könnten es jedoch sein.
Dabei könnte 2015 für Apple-Fanboys durchaus langweiliger verlaufen als erhofft. Das iPhone 6 bleibt ein Bestseller, bringt als 6s aber nur graduelle Verbesserungen, allen voran mit einer 12-Megapixel-Kamera. iOS 9 bietet bis auf eine tiefere Health-Integration wenig neue Features.
Die Apple Watch verspätet sich bis zur WWDC und muss nach Apple-Maßstäben als mittlerer Flop bezeichnet werden – in den ersten Quartalen gehen nur wenige Millionen Einheiten über die Ladentische. Auf den Apple-Fernseher warten Fanboys – und Gene Munster – vergeblich. Auch eine Großübernahme bleibt aus – Tim Cook bleibt seiner Linie treu und riskiert wenig.
Für Spannung sorgt Apple dagegen an der Börse. Nach einem mäßigen Jahresstart zieht die Aktie getrieben durch eine beeindruckende Quartalsbilanz Ende Januar ab – und folgt damit der Blaupause von 2012. Die Gewinne sind im Weihnachtsquartal schier ins Unermessliche gewachsen: Apple verbucht mit einem Nettogewinn von über 16 Milliarden Dollar das erfolgreichste Quartal der Wirtschaftsgeschichte, Analysten überbieten sich mit immer neuen Kurszielen.
Dann kommt es, wie es kommen muss: Carl Icahn ist das egal: Der Großinvestor hat natürlich rechtzeitig verkauft.
2. Samsungs Krise verschärft sich – die Smartphone-Sparte verliert Geld
Wer dachte, die Samsung-Krise von 2014 wäre nur temporär, sieht sich getäuscht: 2015 beschleunigt sich der Niedergang zusehends. Samsungs Absätze brechen drastisch ein: Im Weihnachtsquartal noch konnte der Galaxy-Hersteller wenige Millionen Einheiten mehr als Apple verkaufen, danach folgt der Aderlass – Apple zieht im ersten Quartal erstmals seit 2011 wieder an Samsung auch nach Stückzahlen vorbei.
Die Krise verschärft sich im Jahresverlauf: Das Galaxy S6 floppt schwer, die Marge gerät unter Druck. In der zweiten Jahreshälfte betritt Xiaomi den europäischen und US-Markt und bereitet Samsung erdrutschartige Absatzeinbrüche. Die Südkoreaner verlieren mit ihrer Mobilsparte im letzten Quartal des Jahres sogar Geld, schreiben konzernübergreifend aber weiter einen kleinen Gewinn – nicht zuletzt aufgrund der Prozessorproduktion für das iPhone 6s…
3. Google-CEO Larry Page tritt zurück, Glass wird eingestellt
2014 war kein gutes Jahr für Google – auch kein schlechtes, das könnte sich der Internet-Gigant für 2015 aufgespart haben. Der Gegenwind in Mountain View wird für Larry Page immer größer – der Suchmaschinenriese wirkt im 17. Jahr seines Firmenbestehens immer verwundbarer.
Die Werbeerlöse aus dem Suchgeschäft werfen durch die Verschiebung auf mobile Inhalte weniger Gewinne ab als die Zuwächse über YouTube ausgleichen können, während neue bahnbrechende Produkte, die monetarisiert werden können, weiter auf sich warten lassen. Das seit Jahren erwartete Wundergagdet Google Glass wird nie auf den Massenmarkt losgelassen, sondern heimlich, still und leise intern beerdigt.
Im zweiten Halbjahr folgt jedoch die eigentliche Überraschung: Nach fünf Jahren an der Spitze übergibt Larry Page den CEO-Posten an Android-Chef Sundar Pichai und schreibt in einem 10.000 Zeichen langen Eintrag auf Google+ über seine Beweggründe – ähnlich emotional wie seinerzeit Yahoo-Gründer Jerry Yang.
Page wolle den Weg für die nächste Google-Generation frei machen und sich künftig um „besonderen Projekte“ beim Internetriesen kümmern – Mitbegründer-Sergey Brin geht in ein Sabbatjahr. Anleger reagieren entsetzt und schicken die Google-Aktie 2015 zweistellig nach unten, auf den schwächsten Stand seit 2012.
4. Facebook wird wertvoller als Google, Zuckerberg kauft AI-Start-up
Die große Facebook-Party geht weiter – trotz aller Unkenrufe. Während das weltgrößte Social Network mit einer immer größeren Abwanderungswelle seiner ersten 100 Millionen Nutzer zu kämpfen hat, treiben Bestager und die Schwellenländer die Mitgliedszahlen weiter in die Höhe, so dass schon im Sommer die Marke von 1,5 Milliarden Nutzern geknackt wird.
Vor allem jedoch die Töchter Instagram und WhatsApp legen explosives Wachstum vor – die beliebte Foto-App knackt schon 2015 die halbe Milliarden-Grenze, WhatsApp die volle Milliarde. Offensivere Einsätze von Werbeformaten verärgern vereinzelt Nutzer, entzücken aber die Wall Street: Die Facebook-Aktie durchbricht nicht nur die psychologisch so bedeutsame 100 Dollar-Marke, sondern überholt im weiteren Jahresverlauf sogar Google – jenseits von 320 Milliarden Dollar steigt Facebook zum wertvollsten Internetkonzern der Welt auf.
Im Jahresverlauf kommen wieder Gerüchte über eine Twitter-Übernahme auf, die Mark Zuckerberg jedoch auf der Recode-Conference in gewohnter Manier vom Tisch wischt: „Entschuldigung, Twitter ist irrelevant und die Vergangenheit“, bügelt der inzwischen 31-jährige Facebook-CEO Reporterfragen weg. „Wir investieren nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft.“
Was Zuckerberg damit meint, wird in der zweiten Jahreshälfte deutlich: Für knapp eine Milliarde Dollar übernimmt das Social Network ein chinesisches Artificial Intelligence-Startup in Shenzhen, von dem noch niemand etwas gehört hatte. „Wir machen weiter große Wetten auf eine vernetztere Welt“, erklärt Zuckerberg. „Dies hier ist eine Wette auf die nächsten 50 bis 100 Jahre. Unser Ziel ist es nicht nur, jeden Menschen zu vernetzen – sondern auch jede Lebensform und jeden Planeten. Bis 2100 wollen wir über 1 Billion Nutzer haben.“
5. Alibaba zahlt die Zeche für 2014 – und bricht ein
Nach der Party folgt der Kater. Bis auf enorme 280 Milliarden Dollar war Alibabas Börsenwert nach dem größten Börsengang aller Zeiten angeschwollen, dann setzte bei Anlegern im Zuge der schwierigeren Marktbedingungen die Einsicht ein, dass die aktuelle Geschäftsentwicklung die Bewertung kaum rechtfertigt.
Zudem wird die Abhängigkeit zur chinesischen Politik ein größeres Thema, das Investoren umtreibt. Die Bilanzierungsstandards des E-Commerce-Riesen werden hinterfragt, Anleger wenden sich dem leichter verständlichen Geschäftsmodell von Facebook zu, die Alibaba-Aktie bricht zweistellig ein und fällt unter das Jahrestief von 2014 zurück.
6. Xiaomi wird das neue Samsung
Gründer und Konzernchef Lei Jun drückt weiter aufs Tempo. Nach der Verschnaufpause im vierten Quartal, in dem Xiaomi leicht unter den Erwartungen zurückblieb, startet der chinesische Apple- und Samsung-Herausforderer mit dem neuen Mi5 zum chinesischen Neujahrsfest explosionsartig in 2015 und verkauft im ersten Quartal mehr als 25 Millionen Geräte.
Das Jahresabsatzziel von 100 Millionen verkauften Smartphones korrigiert Jun bereits im Frühsommer auf 120 Millionen Stück nach oben. Im Sommer betritt Xiaomi den europäischen und amerikanischen Markt noch vor dem Launch des iPhone 6s. Lei Jun leistet sich eine milliardenschwere Marketing-Kampagne und stichelt auf dem Times Square gegen Apple: „Warum auf das iPhone 6s warten, wenn es ein besseres Smartphone bereits zum halben Preis gibt?“, feixt Jun gegenüber Bloomberg-Reportern gegen Cupertino.
Phil Schiller reagiert auf der iPhone-Keynote im September in gewohnter Weise. „Can’t even copy right, my ass“, dröhnt Apples Marketingchef auf der Bühne des Moscone Centers und gesteht damit doch ein, Xiaomi als das neue Samsung ernst zu nehmen. Der Kampf um die Marktführerschaft des Smartphone-Marktes wird in den kommenden Jahren von Apple und Xiaomi bestritten.
7. Microsoft stagniert – und kauft LinkedIn für 40 Milliarden Dollar
Nach einem Jahr voller Vorschusslorbeeren hat Microsofts neuer CEO Satya Nadella mit altbekannten Problemen zu kämpfen: Der Rollout von Windows verzögert sich, die Office-Umsätze stagnieren ebenso wie die Surface–Absätze, die Smartphone-Sparte von Nokia verliert weiter Geld.
Um seine Ära zu definieren und die Entschlossenheit zu demonstrieren, Microsoft zu einem führenden Internetkonzern des 21. Jahrhunderts umzubauen, verkündet der IT-Pionier den größten Zukauf seiner nunmehr 40-jährigen Geschichte: Für enorme 40 Milliarden Dollar schnappt sich Microsoft im Sommer den Social Media-Musterschüler LinkedIn.
Wie zuvor beim Versuch der Yahoo-Übernahme könnte das Timing der Übernahme indes ungünstiger kaum sein: Im kommenden Börsencrash im Herbst wäre die LinkedIn-Aktie zu deutlich niedrigeren Kursen zu haben gewesen. Für LinkedIn-Gründer und Aufsichtsratschef Reed Hoffmann wird die Akquisition, für die Microsoft den üblichen Premiumaufschlag von mehr als 50 Prozent zahlt, zum großen Zahltag; Jeff Weiner wird Nadellas COO und damit der zweitwichtigste Mann in Redmond.
8. Twitter: Ein CEO-Wechsel ohne Wirkung
2015 wird zum Jahr, in dem sich ein Social Media-Pionier endgültig von seinem Führungsanspruch verabschieden muss: Was genau Twitter ist, hat die Mehrzahl der knapp 300 Millionen aktiven Nutzer nie verstanden – CEO Dick Costolo aber leider auch nicht erklären können.
Das, vor allem aber die weiter ausbleibende Monetarisierung, wird dem streitbaren CEO in den kommenden Monaten zum Verhängnis: Der Comedian muss den Chefsessel räumen, Jack Dorsey wird zurückgeholt. Doch die anfängliche Euphorie verfliegt gegen Jahresende schnell: Jack Dorsey ist kein Steve Jobs, auch wenn der Vergleich von US-Techmedien immer wieder gerne gesucht wird, und Twitter erst recht kein Apple.
Im großen Crash der Internetaktien taumelt Twitter unter den Ausgabekurs von 2012; erst Gerüchte, dass Google an einer Übernahme interessiert sein könnte, locken Schnäppchenjäger wieder an.
9. IPOs: Die Börsengänge von Uber, Snapchat, Airbnb werden abgesagt
Der Nächste, bitte! So lautete das Motto am Markt für Neuemissionen nach Jahren der Traum-IPOs mit anschließenden Kursexplosionen, wie sie Alibaba, Twitter und LinkedIn vorgemacht hatten. Xiaomi wurde am Sekundärmarkt bereits mit 45 Milliarden Dollar bewertet, Uber kam mit 40 Milliarden knapp dahinter – Snapchat, Airbnb und Spotify galten als die nächsten potenziell zweistelligen Milliarden-Kandidaten.
Doch der deutliche Abschwung der Weltbörsen im zweiten Halbjahr machte Wagnisfinanzierern den Traum vom Mega-Exit zunichte. Xiaomi terminierte den Börsengang bewusst im Vorfeld auf 2016, Uber und Snapchat müssen die IPOs nach ungenügendem Interesse auf der Roadshow absagen – Airbnb und Spotify verschieben den Gang an die Kapitalmärkte auf unbestimmte Zeit. Das Exit-Fenster über die Börse schließt sich.
10. Internetaktien leiden unter Börsencrash
2015 braut sich ein Sturm an den Aktienmärkten zusammen, der sich im Herbst im veritablen Crash entlädt. Die Märkte vertragen die Zinswende der Fed nicht, während die Eurozone in eine harte Rezession rutscht. Auch die deutsche Konjunktur bricht erstmals seit 2009 ein. EZB-Chef Mario Draghi schmeißt hin, der Euro taumelt in Richtung Parität, Öl sogar auf ein 15-Jahrestief unter 40 Dollar – Russland in Richtung der Staatspleite. Weltpolitisch verfinstert sich die Lage: Revolutionäre Kräfte proben den Putsch gegen Putin.
Anleger gehen nach fünf Boomjahren in Deckung und treiben die Weltbörsen zweistellig nach unten – der Dax schließt unter 8000 Punkten, der Dow Jones unter 15.000. Vor allem aber Internetaktien, die ihren Besitzern in den vergangenen fünf Jahren fantastische Renditen beschert haben, brechen krachend ein und verlieren deutlich an Wert. Hoch gewettete Internet- und Techaktien wie Rocket Internet geraten unter Druck.